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Das Menschsein beleben

Morgenandacht im Deutschlandfunk vom 04. Februar

Wir wollen großes, treffen auf kleines und machen uns klein.

Wir treffen auf großes, machen es klein, um groß zu erscheinen.

Die sehr positive Resonanz auf das Mailing von Montag zu meinem dreiteiligen Artikel „Was für ein Theater“ (Teil 1, Teil 2, Teil 3) hat mich sehr gefreut: Herausfordernde Zeiten erfordern es, zu der Natur der Probleme vorzudringen, um hoffen zu können, ihrer nachhaltig Herr werden zu können. Gerade auch mit Blick auf die Bundestagwahl ist es für den Wähler wichtig, zu verstehen, wie der Frieden, die Migrationsdebatte sowie sein eigenes Wohlergehen miteinander im Zusammenhang stehen und, dass es nicht ausreicht, am 23. Februar seine Stimme abzugeben – in der Hoffnung, dass jemand anders die Dinge so richtet, dass sie ihm bestmöglich nützen.

Doch dem ersten Absatz muss seit Mittwoch ein Zweiter hinzugefügt werden, denn der Artikel bekommt im Zusammenhang mit dem Telefonat von Donald Trump mit Wladimir Putin und den geäußerten Absichten, Europa bei den Verhandlungen zu ignorieren, es aber für den Wiederaufbau und Friedenstruppen in der Ukraine verantwortlich zu machen, eine geradezu herausragende Bedeutung. Und es gibt noch einen zweiten Artikel, den ich erneut Ihrer Aufmerksamkeit empfehle: Meine Analyse zur Natur der amerikanischen Politik, Die zweite Seite der Medaille.

Wer mich liest, weiß, dass die Analyse der gesellschaftliche Verfasstheit sowie das Bemühen, für unsere Land und seine Menschen Ideen, Konzepte und Produkte für eine gedeihliche wie auch nachhaltige Zukunft zu entwickeln und dabei insbesondere das Individuum zu stärken – es vom betreuten Objekt zum individuell handelnden und an der Gemeinschaft orientierten, kreativ-schöpferischen Subjekt zu führen (1, 2, 3, 4) –, wesentlich meine Auseinandersetzung mit der Zeit bestimmen. Dabei stelle ich immer mal wieder fest, dass ich Gedanken in Worte fasse, hinsichtlich derer ich später feststelle, dass mir über längere Zeit nichts Besseres einfällt. Beispielhaft sind das meine Aphorismen und verschiedene Bilder, aber auch meine Vorstellung Vom Menschsein. Auch meine Neujahrswünsche im Archiv meiner Homepage zeugen davon: Über eine ganze Anzahl von Jahren endeten Sie mit der Formel:

Ich schließe mit der nun schon beständigen Formel meiner Wünsche an Sie und das neue Jahr. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, uns mehr mit uns selbst und unseren Schwächen auseinanderzusetzen. Um unserer selbst willen.

Wie das geht? Nicht, in dem wir uns martern und Selbstvorwürfe oder andere dafür verantwortlich machen. Nein. Aber ein wenig links und rechts des Weges bewegen, den wir eingeschlagen haben und die eine oder andere Abzweigung nutzen. Das nicht bezogen auf Dinge, die uns leichtfallen. Ganz im Gegenteil müssen wir uns mit dem beschäftigen, was uns schwerfällt, dem, was neu für uns ist, dem, wo unsere Dämonen lauern und dem, was wir bisher ablehnen. Ich kann Ihnen aus nun ja auch schon längerer Erfahrung versichern: Das kann erfüllend sein, Spaß machen, Erleichterung bringen, den Druck nehmen.

Wo diese Quellen für neue Erfahrungen und Leistungsfähigkeiten liegen, kann für jeden von uns ganz verschieden sein: Vielleicht Probleme transparent machen, gemeinsam nach Lösungen suchen, sich auf den Nutzen des anderen konzentrieren, offen auf vermeintliche Gegner zugehen. Tagtäglich begegnen uns Situationen, in denen wir uns darin üben können. Es ist vollkommen normal, wenn das am Anfang schwerfällt. Aber nur so geht es.

Am 04. Februar hörte ich im Deutschlandfunk die Morgenandacht von Pfarrer Detlef Ziegler aus dem Bistum Münster. „Ja“, habe ich in etwa gedacht. Pfarrer Ziegler hat sehr kraftvolle Worte gefunden für die Verfasstheit unserer Gesellschaft und ich möchte sie meinen Lesern nicht vorenthalten. Ein sehr willkommener Nebeneffekt ist die Tatsache, dass er den 300. Geburtstag von Immanuel Kant in Erinnerung ruft.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Gerade auch mit Blick auf die Bundestagswahl am 23. Februar und dem, was ich bemüht war, dazu in meinen Texten der letzten Wochen zum Ausdruck zu bringen – aber auch auf X, wo es viel um die „Achtung“ von allen und allem geht –, sehe ich in dem Text die besondere Bedeutung. Pfarrer Ziegler war so freundlich, mir die Veröffentlichung zu erlauben. Man kann sich seinen Beitrag auch hier anhören. Dort findet man auch eine Kurzvita zu ihm.

 

Nun also die Morgenandacht von Pfarrer Detlef Ziegler

Immanuel Kant, vor gut 300 Jahren geboren, gilt als eher trocken und schwer zu verstehen. Umso erstaunlicher ist das, was ich in seiner Metaphysik der Sitten lese. Da konstatiert er voller Leidenschaft dem Menschen einen ausgebreiteten Hang zur "Kriecherei". Und fordert uns dazu auf: "Werdet nicht der Menschen Knechte. Lasst euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten. Das Bücken und Schmiegen vor einem Menschen scheint in jedem Fall eines Menschen unwürdig zu sein. Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird."

Immanuel Kant ringt um eine philosophische Begründung der menschlichen Würde. Ein Mensch darf niemals zu einem bloßen Mittel für einen höheren Zweck degradiert werden. Seine Würde ist unantastbar. In diesem Sinne ist Kants Anliegen auch im ersten Satz unseres staatlichen Grundgesetzes fest verankert.

Aber Kant geht es nicht nur um die Würde des Anderen. Ihm geht es auch um die Würde in uns selbst, die bedroht ist durch eigene Selbsterniedrigung und Kriecherei. Wenn ich mich selbst klein und gering mache, darf ich mich nicht wundern, wenn andere ebenfalls von mir klein und gering denken. Die Selbstverwurmung des Menschen untergräbt die eigene Würde.

Im Übrigen finde ich darin ein genuines Anliegen Jesu wieder. Keine Frage: Es gibt diese Worte Jesu, die als Selbstverwurmung des Menschen fehlgedeutet werden können und es auch wurden, um Menschen klein zu halten: "Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Oder:  Wer bei euch der erste sein will, soll der Sklave aller sein." Doch geht es in diesen Worten Jesu nicht darum, Menschen zu kleinen Würmern zu machen; es geht darum, die Menschen, die Jesus nachfolgen, vom Sockel ihrer Selbsterhöhung herunterzuholen und sie zum Dienst an anderen Menschen zu befähigen.

Denn Dienst am Menschen braucht Augenhöhe, keine Anmaßung von oben herab. Den anderen achten, ja lieben kann ich aber nur, wenn ich ein gesundes Maß an Selbstachtung und Selbstliebe mitbringe. Und genau so hat es Jesus auch im Doppelgebot der Liebe auf den Punkt gebracht: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Eben: Wie dich selbst! Eigenliebe und Selbstliebe sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Weniger vornehm ausgedrückt: Wer sich selbst nicht riechen kann, der stinkt auch anderen.

Wenn ich mir so manche Begegnung Jesu mit vom Leben und vom Schicksal gezeichneten Menschen anschaue, fällt mir genau das auf: Er sucht diese Menschen in ihrer verschütteten Würde auf, die durch andere verunglimpft wurde, aber auch durch die eigene Selbsterniedrigung verloren gegangen ist. Er fragt nicht: "Was kann ich für dich tun?", sondern: Was willst du, dass ich dir tun soll? Wer so nach dem eigenen Wollen gefragt wird, bekommt die Chance, die eigene Würde wiederzuentdecken. Oder wie Kant sagt: "Wir haben eine Pflicht der Achtung gegen uns selbst." Und wenn Jesus zu einem aufgerichteten Geheilten sagt: "Dein Glaube hat dich gerettet!", dann ist es wohl dieser Glaube an sich selbst und der Glaube an den Gott, der es mit mir, mit uns allen gut meint. Wir sind seiner und einander würdig. Das kann mich stark machen. Und diese Stärke brauche ich, um mich für die Würde aller stark zu machen. Denn sie ist wieder, wie eh und je, bedroht.

 

Ausklang

Ich möchte diesen Artikel mit einem Zitat von Papst Franziskus schließen, der das bisher Diskutierte ergänzt. Auf X gehört es neben einem von Albert Schweitzer

Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.

zu den von mir am meisten verwendeten Fremdzitaten. Es stammt aus einem vielbeachteten Interview mit Antonio Spadaro vom 21.09.2013. Wenn der Papst in Demut die eigene Fehlbarkeit reflektiert und den Ausweg daraus zeigt, so kann das sicher auf unser Sein insgesamt übertragen werden: Auf all die gesellschaftlichen Strukturen, die Parteien, die individuellen gesellschaftlichen, beruflichen sowie privaten Beziehungen und nicht zuletzt auf uns selbst.

Ich sehe ganz klar, dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen - Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen… Man muss ganz unten anfangen.




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